Alle an einem Tisch?
Kommt irgendwann eine neue Beziehung in das Leben eines hinterbliebenen Elternteils, stellt das Kinder wie Erwachsene manchmal vor Herausforderungen. Was Patchwork-Familien nach einem Verlust dabei hilft, zusammenzuwachsen – und nicht an den eigenen Ansprüchen zu verzweifeln.
Für die Kinder möchte man als Elternteil naturgemäß nur das Beste. Aber was genau ist denn das Beste, wenn beispielsweise der Papa nicht mehr lebt und die Mama einen neuen Freund hat? Kann man den Kindern zumuten, sich an einen neuen Menschen an der Seite ihres Elternteils zu gewöhnen? Wie viel Rücksicht ist angebracht, wie viel Platz haben die eigenen Bedürfnisse als Erwachsener?
Es ist sehr verständlich und nachvollziehbar, dass man sich als Mutter oder Vater ein harmonisches Familienleben wünscht. Da ist die Idee, alle an einem Tisch zu versammeln, gemeinsam etwas Schönes zu unternehmen, denn alle sollen sich miteinander wohlfühlen. Doch manchmal prallt der Vorsatz unsanft auf die Realität. Unterschiedliche Gefühle, Vorstellungen und Erwartungen kollidieren und wollen irgendwie austariert werden. Ein Spagat, der nicht wenige hinterbliebene Elternteile an die Grenze bringt.
Wichtig ist, zu verstehen, dass sich die Bedürfnisse der Familienmitglieder stark unterscheiden können. Man hat sich als Mutter oder Vater verliebt und für eine neue Beziehung entschieden, alle anderen müssen irgendwie mit. Die Kinder, egal in welchem Alter, kommen erstmal ungewollt in diese Situation – ohne verliebt zu sein, ohne eine Wahl zu haben und vielleicht auch ohne diesen Menschen überhaupt richtig zu kennen, der nun in die Familie kommt.
Was dabei helfen kann, in einer neuen Konstellation zusammenzuwachsen:
- Den Druck rausnehmen: Wichtig ist, allen Beteiligten Zeit zu geben, vor allem den Kindern. Und eine Haltung einzunehmen, die vermittelt: „Ich als Erwachsene*r habe diese Entscheidung getroffen. Wenn du noch Zeit brauchst, ist das in Ordnung.“ Verwitwete Elternteile brauchen dabei einen langen Atem: Geduld ist manchmal nicht nur über Wochen und Monate gefragt, sondern zum Teil mehrere Jahre.
- Der oder dem Verstorbenen Raum geben: Für Kinder und Jugendliche jeden Alters ist es entscheidend, dass der verstorbene Vater oder die verstorbene Mutter präsent bleiben darf. „Wichtig war für mich, zu merken, dass meine Mama immer noch einen Platz hat in der Familie, dass ich über sie sprechen darf, dass Fotos an der Wand bleiben dürfen, dass sie nicht zur Seite gedrängt, nicht einfach ersetzt wird“, erzählt eine junge Frau, deren Vater nach dem Tod der Mutter eine neue Beziehung eingegangen ist. Wie groß dieser Platz ist, das ist ganz individuell und muss innerhalb jeder Familie immer wieder ausgelotet werden. Für Elternteile ist es dabei sehr wichtig, zu verstehen, dass die Kinder in ihrer Trauer womöglich an einem ganz anderen Punkt stehen und sich das Tempo, in dem Veränderungsschritte denkbar sind, von Familienmitglied zu Familienmitglied sehr stark unterscheiden kann.
- Außen vor sein dürfen: Manche Jugendlichen und erwachsene Kinder wollen so wenig wie möglich in die neue Partnerschaft involviert werden. Sie zeigen deutlich, dass sie keine Lust auf einen gemeinsamen Urlaub oder Wochenendprogramm in größerer Runde haben. Diesen Wunsch gilt es zu akzeptieren und als berechtigtes Bedürfnis zu verstehen. Bei kleineren Kindern ist es oft zeitlich und organisatorisch gar nicht möglich, einen neuen Menschen näher kennenzulernen ohne die Kinder miteinzubeziehen. Sie haben oftmals andere Wünsche, möchten vielleicht sogar einen „neuen Papa“ oder eine „neue Mama“ suchen und gehen mit diesem Thema häufig ungezwungener um.
- Sicherheit vermitteln: Was den kleinen wie den großen Kindern guttut, ist ein Vermitteln von Sicherheit. Sicherheit durch die Botschaft: Nicht alles verändert sich durch diese neue Partnerschaft. Ich bin weiterhin für dich da, du verlierst mich nicht an diesen neuen Menschen. Es gibt weiterhin unseren vertrauten Raum.
- Rituale beibehalten: Kindern hilft das Signal: Das, was gut ist im Moment, das darf auch so bleiben. Dabei kann es um kleine Momente wie das Vorlesen einer Gutenachtgeschichte oder die Hilfe beim Zähneputzen gehen, was weiterhin der Papa übernimmt und nicht beispielsweise die neue Partnerin. Oder vielleicht ist es der halbjährliche Mutter-Tochter-Ausflug, der nach wie vor zu zweit geplant wird. Auch helfen Rituale in Zusammenhang mit dem verstorbenen Elternteil: das gemeinsame Blättern im Fotoalbum, ein regelmäßiger Besuch am Grab oder ein Familienurlaub in gewohnter Besetzung. So beschreibt es beispielsweise ein betroffener Vater: „Jedes Jahr um den Todestag meiner verstorbenen Frau fahre ich mit meinen beiden Kindern ein paar Tage in den Süden. Da sind meine neue Partnerin und ihre Kinder ganz bewusst nicht dabei. Solange uns dreien dieses Ritual guttut, werden wir das auch so beibehalten.“
- Offen kommunizieren: Hilfreich ist es in jedem Fall, wenn alle Beteiligten offen miteinander über Gefühle, über Erwartungen und Wünsche sprechen können. Dabei ist es unsere Verantwortung als Erwachsene, immer wieder das Gespräch zu suchen, nachzufragen und die eigene Perspektive anzubieten. Für Kinder und Jugendliche kann es sehr entlastend sein, wenn wir ihr Bedürfnis hinter der Ablehnung oder Verweigerung sehen und es aussprechen. Denn manchmal kennen sie es selbst nicht. Auch was die Rolle des neuen Partners oder der neuen Partnerin betrifft, braucht es den Austausch: Wem ist was wichtig? Wo finden wir zusammen, wo nicht? Wie gehen wir mit der Situation um?
- Selbstverständliches aussprechen: Für Erwachsene sind manche Dinge so klar und logisch, dass sie sie gar nicht ansprechen – zum Beispiel, dass der oder die Verstorbene nicht ersetzbar ist. Für ihre Kinder wäre es dagegen eine große Entlastung, würden diese Tatsachen offen und direkt formuliert. Sie haben ihre ganz eigene Sicht auf die Welt, sehen andere Zusammenhänge, geben sich Verantwortung oder fühlen sich in Aspekten betroffen, die aus elterlicher Brille vollkommen abwegig sind.
- Zwischen Mensch und Rolle unterscheiden: So wie für verwitwete Elternteile auch, kann es für Kinder hilfreich sein, ihnen eine Unterscheidung von „Mensch“ und „Rolle“ anzubieten. So werden manche Aufgaben und Rollen vielleicht durch den neuen Partner oder die neue Partnerin besetzt, die bisher bei dem oder der Verstorbenen lagen, der Mensch ist und bleibt aber einzigartig und unersetzbar. Das ist vor allem wichtig, weil es bei manchen hinterbliebenen Elternteilen durchaus den Wunsch gibt, wieder jemanden an der Seite zu haben, der einen Teil der Elternrolle übernimmt: „Manchmal wünsche ich mir einfach jemanden, der mich unterstützt, in Dingen wo ich mich schwertue. Jemanden, der das mit mir wuppt“, erzählt etwa ein betroffener Vater. „Meine verstorbene Frau soll dadurch natürlich nicht ersetzt werden.“
- Ansprüche hinterfragen: Und dann sind da noch die Themen, die auch in anderen Familien – mit oder ohne Patchwork, mit oder ohne Verlustgeschichte – vorkommen. Denn was man gerne mal vergisst in dieser besonderen Situation: Es gibt sie nicht, die perfekte Familie. Die, in der immer alles friedlich und rund läuft. In der alle Bedürfnisse austariert und alle mit allem einverstanden sind. Insofern darf man anerkennen, dass es auch in einer besonderen Familie ganz normale Probleme geben kann. Vielleicht ist es also in Ordnung, wenn sich herausstellt, dass Harmonie in der eigenen Familie gerade nicht lebbar ist. Vielleicht ist auch das eine Realität, die für eine Weile so sein darf.
Patchwork-Konstellationen werden zunehmend als "besonders bunt" oder als "Wahlfamilie" dargestellt. Ihr Image ist positiver besetzt als noch vor einigen Jahren, was zur Entstigmatisierung beitragen und Familien entlasten kann. Die Kehrseite ist jedoch, gerade für Menschen mit Verlustgeschichte im Hintergrund, dass damit ein gesellschaftlicher Blick entstehen kann, der nicht zur empfundenen Wirklichkeit passt. Weil die sich vielleicht nicht bunt und auch nicht selbst gewählt anfühlt. Weil das Modell an allen Ecken und Enden knirscht, weil man es sich anderes gewünscht hat, weil es einen schmerzhaften Abschied bedeutet, nicht nur von einem geliebten Menschen, sondern auch von einem Wunschbild von Familie.
Um zu einem neuen Bild zu kommen, das zu der veränderten Situation passt, kann es helfen, sich selbst einige Fragen zu stellen:
Welche Erwartungen habe ich an eine neue Partnerschaft?
Welche Vorstellungen und Wünsche habe ich in Bezug auf ein mögliches Familienleben?
Welche Bedürfnisse stehen damit in Zusammenhang und wie können diese erfüllt werden?
Was ist mein ganz persönliches Idealbild von Familie?
Was davon muss ich verabschieden und betrauern, was davon kann ich weiter leben?
Worauf möchte ich auf keinen Fall verzichten?
Wo sehe ich Veränderungsspielraum zur ursprünglichen Idee, zum ursprünglichen Plan von Familie und Zukunft?
Wer sich damit näher beschäftigt, findet vielleicht überraschende Antworten – jenseits des gesellschaftlichen Normbildes von Vater, Mutter, Kind im gemeinsamen Einfamilienhaus. Vielleicht entsteht daraus ein ganz eigener Weg. Anders gut. Und anders schön.
Beratung für hinterbliebene Elternteile
Kinder brauchen die Unterstützung von Erwachsenen, um ihren eigenen Weg zu finden, mit dem Tod eines geliebten Menschen umzugehen. Die Frage, wie es gelingen kann, diesen Weg hilfreich zu begleiten, löst oft Verunsicherung aus. In den kostenlosen Beratungsgesprächen versuchen wir, gemeinsam ein Verständnis für die Reaktionen des Kindes oder des Jugendlichen zu entwickeln und individuelle, auf die jeweiligen Bedürfnisse angepasste Möglichkeiten der Unterstützung zu erarbeiten. Weitere Informationen und unser Kontaktformular finden Sie hier.
Text: Christina Schwarzenauer
Copyright: Nicolaidis YoungWings Stiftung