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Tag 300: Brief an Sonja

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Meine liebe große Sonja, während ich das hier schreibe, spielst du mit Isa in deinem Zimmer - eigentlich solltet ihr (du jedenfalls), schon im Bett liegen. Es klingt gerade sehr fröhlich und ausgelassen durchs Haus, ich höre euch bis runter ins Wohnzimmer. Ich bin froh, gerade scheinst du dich gut zu fühlen.  Du hast heute beim Abendessen einen Durchhänger gehabt. Es war einer dieser Moment, in denen du sagst: "Ich hasse mein Leben." Heute dauerte die "Trauerpfütze" etwas länger, ein paar Tränen sind gekommen und du hast mir sehr klar gesagt: "Mir ist alles zu viel, ich bin überfordert." Bei euch Kindern kommen diese Trauerschübe in kurzen, aber umso heftigeren Dosen. Heute war es wieder einmal so weit. Ich kann deinen Worten nichts entgegensetzen. Ich fühle mich in diesen Momenten immer verdammt hilflos. Weil ich weiß, dass du trotz allem leidest. Weil mir immer wieder bewusst wird, dass du seit fast einem Jahr ohne Mutter aufwachsen musst. Weil ich ganz

Tag 293: Selbstliebe

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"Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Dieser Satz aus dem Markusevangelium ( Markus 12, 31 ), wird oft küchentischpsychologisch zitiert. Und doch lohnt es sich, ihn einmal genauer zu beleuchten: Er beinhaltet auch, dass man andere nur dann wirklich lieben kann, wenn man sich selbst liebt. Wer sich selbst nicht liebt, kann nur schwer andere lieben. Die Selbstliebe ist häufig Gegenstand psychologischer Abhandlungen und Ratgeber, gerne auch unter der Abwandlung Selbstfürsorge oder dem englischen Begriff Self Care . Ich habe dies in an anderer Stelle schon einmal thematisiert. Im Zusammenhang mit dem heute exakt 293 Wochen zurückliegenden größten Umsturz in der Mitte meines Lebens und am Anfang von Sonjas Leben habe ich mich öfter mit diesem Begriff beschäftigt. Mit ausschlaggebend dafür war ein Gespräch mit einer Lehrerin von Sonja im vergangenen Herbst: Ich erläuterte damals, wie ich versuche, Sonja unter den schwierigen Umständen auf ihrem Lebensweg - unter ande

Tag 280: Unvergänglich

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Heute sind es 40 Wochen. dass Sonjas und mein erstes Leben vergangen ist. Die Zahl 40 hat in der christlichen und jüdischen Kultur eine hohe symbolische Bedeutung: Das Volk Israel zog 40 Tage durch die Wüste, die Fastenzeit dauert 40 Tage, bei der Sintflut währte der Dauerregen 40 Tage.  Der Zufall will es, dass dieser Tag auf den 15. April fällt: Heute, vor 112 Jahren ereignete sich die wohl größte und bekannteste Schiffskatastrophe: Die RMS Titanic sank innerhalb weniger Stunden nach einer Kollision mit einem Eisberg im Nordatlantik, 1514 Menschen fanden ihr Grab in den eisigen Wassern.    Es ist bekannt, dass dieses damals größte Passagierschiff als unsinkbar gegolten hatte. Umso größer war das Presseecho damals, hatte doch die Titanic nicht mal ihre Jungfernfahrt überlebt. Diese unfassbare Katastrophe und Tragödie steht gleichsam für die menschliche Hybris, sich über die Natur hinwegsetzen zu können wie auch für  das Ende des viktorianischen Zeitalters mit seiner Klassengesellschaf

Tag 274: Abgrenzungen

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Ostern ist vorbei, die Osterferien liegen hinter uns und damit das letzte große Fest im Trauerjahr. Man könnte sagen: Wir haben's ein Stück weit geschafft! Es geht stramm auf die Sommerferien zu, diese beginnen in Niedersachsen dieses Jahr bereits am 22. Juni, also verhältnismäßig früh. Veronikas erster Todestag wird somit mitten in die Sommerferien fallen.  Ich hatte gestern Abend ein Gespräch mit einer "Mitwitwe" und wir kamen zu der Einsicht, dass ein so gewaltiger Umbruch im Leben auch viele andere Veränderungen in der betroffenen Person auslöst: Durchgemachte, verarbeitet geglaubte oder latent vorhandene Lebenskrisen kommen wieder zum Vorschein. Ich vergleiche das mit einem Gewässer, in dem sich Sedimente am Boden abgelagert haben: Wenn das darüber liegende Wasser sehr stark aufgewühlt wird und in Bewegung gerät, kommen auch die Sedimente wieder in Wallung und trüben das klare Wasser. In der Psychologie spricht man von "Triggern": Erlebte Krisensituationen

Tag 266: Ostern und ein Jahr später

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Auf Facebook bekommt man "Erinnerungen" in Form früher geposteter Fotos angezeigt. Ich bekam heute vom Algorithmus dieses Bild in den Feed gespült. Heute ist Ostermontag, der erste "ohne" für Sonja und mich. Vor einem Jahr war es ein Samstag und damit ein ganz "normaler" 1. April. Die Aufnahme zeigt meine drei Damen mit ihren acht Beinen im InterCity auf der Fahrt von Göttingen nach Würzburg. Es war, ohne dass wir es zu jedem Zeitpunkt wussten, unsere letzte gemeinsame Reise: Wir fuhren zuerst zu Veronikas Tante nach Würzburg, dann zu ihrem Vater nach Brannenburg, am Schluss zu meiner Mutter nach München. Wir haben alle Verwandten besucht, was wir oft in den Osterferien getan hatten. Veronika war damals noch mobil, wenn auch schon sichtbar durch den Krebs geschwächt. Zudem bekamen wir während dieser Reise einen Anruf aus dem Göttinger Uniklinikum, dass man weitere Tumorherde gefunden hatte. Die onkologisch-medizinische Situation verschärfte sich also zuseh

Tag 257: Jubeltag

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Nach 28 Jahren habe ich gestern den Übergang in mein neues Lebensjahr erstmalig wieder ohne Veronika gefeiert. Genau wie 1996 fiel mein Geburtstag heuer auf einen Freitag. Gefeiert habe ich im engsten Familien- und Freundeskreis. Man könnte sagen, ich habe einen weiteren Schritt im ersten Trauerjahr hinter mich gebracht, den ersten eigenen Geburtstag "ohne".  Dass ich einen schönen, entspannnten und auch lustigen Abend hatte, zeigt mir, dass das Leben weitergeht und die schönen Dinge im Leben und Trauermomente sich nicht gegenseitig ausschließen. Veronika und ich haben seit der Rückfalldiagnose im Sommer 2020, aber insbesondere, seit klar war, dass der Krebs nicht mehr zu heilen wäre, viel gelernt: Uns ist es in den Jahren 2021 und 2022 gelungen, trotz des sich auftuenden Abgrunds unser Leben immer wieder aufs Neue zu bejahen, jeden Tag als kostbares Geschenk zu begreifen und ihn so zu leben, als sei es der letzte (gemeinsame). Seit dem letzten Sommer ist es mir gelungen, die

Tag 255: Allegra

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In unserer Heimat Niedersachsen sind seit Beginn dieser Woche Osterferien. Sonja, Isa und ich haben uns wieder auf Reisen begeben. Da Sonja eine gewisse Vorliebe für die Schweizer Alpen entwickelt hat, sind wir diesmal in Scuol im Unterengadin, ein weiteres Mal in der Schweiz. Durch diesen Ort fließt ebenso wie durch den Ort mit Veronikas Elternhaus (Brannenburg in Oberbayern) der Inn. Bei Brannenburg ist dieser bereits ein gemächlicher breiter Fluss auf dem Weg zur Donau. Hier, gut 200 Kilometer weiter flussaufwärts, ist er kaum mehr als ein Gebirgsbach.  Die Gegend hier wirkt an vielen Stellen wie aus einem Bilderbuch: traditionelle Bauernhäuser mit trutzigen Mauern, Außenfresken und kleinen Fenstern, akkurate gepflegte Dorfstraßen, dunkle Tannen, grüne Wiesen im Sonnenschein und - zu dieser Jahreszeit - schneebedeckte Gipfel. Für Zugliebhaber wie mich gehören die bekannten roten Züge der Rhätischen Bahn unbedingt zum Reiseerlebnis dazu.  Ich wollte diesen Ort schon lange einmal bes