Es braucht Mut, um glücklich zu sein – Seite 1

Klara Charlotte Zeitz hat Kunst-, Film- und Theatergeschichte in Neapel studiert und lebt als freie Autorin in Leipzig. Sie engagiert sich politisch, unter anderem im Vorstand des Phia e.V., der sich gegen Gewalt an Frauen einsetzt. Sie arbeitet gerade an ihrem Romanprojekt "Laskarina" und ist Gastautorin von "10 nach 8". © Die Lichtbildnerei /​ Susanne Stark

Der Philosoph Karl Jaspers schrieb in seiner Theorie über das fruchtbare Scheitern: "Der Mensch… muss ja sagen zum Tod und zum Leiden, zum Kampf, zur Schuld und zum Schicksal. Tut er dies in allem Ernste, dann kann es geschehen, daß er eben im Aushalten der Grenzsituationen zu seiner eigentlichen Existenz gelangt. Wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituation offenen Auges eintreten." 

Nichts hat sich mir als so wahr erwiesen wie diese Worte. Manchmal kommt es mir vor, als wären Grenzsituationen die Pflastersteine meiner vergangenen Jahre. Im Zusammenhang mit dem Thema Tod habe ich schon viel Dunkles, Absurdes, Komisch-Groteskes und Grausames gesehen. Ich habe in Neapel studiert. In meinen fast neun Jahren dort wohnte ich im Spanischen Viertel, der damaligen Mafiahochburg. Einmal kam ich von der Uni nach Hause, da schossen vier Motorräder aus allen vier Himmelsrichtungen auf die Kreuzung zu und exekutierten einen Überläufer. Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass ich so was sah. Der Tod gehörte zu Neapels Gesicht wie Pizza, Alchemie und Diego Maradona. In Neapel sah ich auch die ersten Totenwachen: Über Tage standen die Türen der bescheidenen Wohnungen weit offen, gaben den Blick frei auf brennende Kerzen und Tote, die auf den Betten lagen. Familienangehörige und Freunde kamen und gingen, brachten Essen oder beteten den Rosenkranz.

Aber es waren nicht meine Toten. Für mich begann das Sterben vor fünf Jahren. Erst mein Vater. Dann nahe Familienangehörige. Vor zwei Jahren dann der grausamste und unbegreiflichste Tod von allen: ein Femizid. Das Opfer war meine Cousine Sophia. Man könnte also sagen, dass ich mittlerweile eine gewisse Expertise im Umgang mit dem Verschwinden habe. Was weder eine Leistung ist, noch erstrebenswert.

Dieses Jahr scheint das Jahr der kollektiven Superlative von Todeserfahrung zu sein. Das Sterben ist 2020 durch Corona zum großen gesellschaftlichen Gleichmacher geworden, verschont weder reich noch abgesichert, ereilt aber leider in besonderem Maße die sozial Benachteiligten und Personen, denen das Homeoffice verwehrt bleibt. Und auch, wenn es in Deutschland glücklicherweise nicht so viele getroffen hat wie in Italien oder Spanien, haben Angst, Unsicherheit und Überforderung wohl doch fast jeden berührt. Bis hin zur kollektiven Traumatisierung.

Das Gefühl der Unwiederbringlichkeit verblasst

Wir können heute über sexuelle Praktiken mit einem oder mehreren Partnern frei sprechen, aber wenn es um den Diskurs des Sterbens oder der Trauer geht, reagiert die Gesellschaft nach wie vor mit Prüderie, Distanz und Tabuisierung. Die ständig zunehmende Selbstoptimierung macht uns herzkarg. Unser Umfeld ist mit der erfahrenen Endlichkeit überfordert und zieht sich meist schweigend zurück. Das drängt die Trauernden in einen Raum der Stille. Die Stille danach ist das Lauteste. Sie breitet sich aus wie fließende Lava und drückt die eigenen Wahrheiten gegen innere und äußere Wände – versteinert alles Gewollte und Gewohnte. Sie wird zum Kern und macht Unausgesprochenes sichtbar. Deshalb rede ich von den Toten, als wären sie mit mir im Raum. Die tägliche Integration lässt mich ihre gesprochenen Worte und einmaligen Gesten nicht vergessen.

Trotzdem: Ich habe gelernt, mich in großem Bogen zu verabschieden. Von den Menschen, die mich ein Stück des Weges begleitet und eine andere Abzweigung genommen haben. Ich habe gelernt, dass es ein Danach gibt und es zu spät sein kann. Dass letzte Worte schwerer wiegen und deshalb ständig gesagt werden sollten. Ich habe mich von der Angst verabschiedet, dass der Tod etwas nimmt, das unwiederbringlich ist – und glaube mittlerweile, dass diese Annahme falsch ist. Die Unwiederbringlichkeit ist ein Gefühl, das verblassen kann wie jedes andere, wenn der Moment dafür gekommen ist.

Ich lasse die Tränen laufen und lache oft und laut

Ich habe gelernt, dass wir mit Zeit rechnen und doch nichts kontrollieren können. Ich habe gelernt, dass ich "Glück zu haben" nicht beeinflussen kann. "Mut zu haben" dagegen schon. Dass es oft Mut braucht, um glücklich zu sein. Dass alles im Leben von Entscheidungen abhängt und die volle Verantwortung für die Emanzipation der eigenen Werte bei uns selbst liegt. Ich habe gelernt, dass Rituale der Wertschätzung wichtiger sind als ein Haus, ein Auto oder ein Rasenmäher. Dass in der Entspannung das Fühlen kommt. Dass wir lernen müssen, zu ruhen, in uns, mit den Dingen, um zu fühlen, was wir brauchen. Und dass Loslassen das eigentliche Einlassen ist.

Ich habe gelernt zu glauben. An die Madonna und an die Gemeinschaft. Ich habe meine Prinzipien festgezurrt, bin aber jederzeit bereit, infrage zu stellen. Ich kümmere mich um mich und um meine Verbündeten. Ich lasse die Tränen laufen, wenn sie kommen und lache oft und laut. Ich fluche, wenn es mir angebracht erscheint und gehe, wenn sich etwas nicht mehr richtig anfühlt. Und ich schäme mich für nichts.

Ich habe gelernt, dass wir springen sollten, ins Ungewisse. Und dass dieser Sprung das Ungeheuerlichste, Größte ist, was der Mensch tun kann. Und dass meistens auf dem Weg dahin eine helfende Hand kommt. Und wenn man einmal gesprungen ist, gibt es kein Zurück. Nicht ins Private. Nicht ins Intime. Nicht ins Passive. Danach bleibt nur der konsequente Schritt in die Mündigkeit. Für uns selbst und das, was uns umgibt. Wenn wir Offenheit und damit auch Unberechenbarkeit nicht leben, bleiben wir in den sich selbst genügenden Sicherheitsstrukturen kleben. Wirklich frei werden wir nur durch Wort und Tat, im Umgang von Mensch zu Mensch. Damit schaffen wir ein Initium: eine Bewegung oder einen Neuanfang, der dem Tod entgegensteht. Hannah Arendt betitelte diesen Neuanfang eines Menschens mit dem Wort Natalität. Jedes Ende, jede Radikalität und jede unruhige Bewegung kann der Neuanfang von etwas sein. Wir sollten diese Bewegung zur Veränderung nutzen, denn auf sie kommt es an, hier und jetzt. Gäbe es das Sterben nicht, könnten wir die Natalität nicht in dem Maße schätzen.

Drei Eigenschaften sind dafür meiner Meinung nach unerlässlich: das Verzeihen, das Versprechen und der Zweifel. Das Verzeihen beinhaltet das Rückgängigmachen eines eingestandenen Fehlers. Und das Versprechen, es in Zukunft besser zu machen. Beides funktioniert aber nur im Zusammenspiel mit einem Gegenüber, mit dem man eine Art der Verbindlichkeit schafft. Es braucht Mithandelnde und Mitwissende, die uns bestätigen und uns gegebenenfalls auch erinnern. Und schließlich im Zweifel den Zweifel. Immer wieder sich selbst, die eigenen Ziele, Träume und Werte zu hinterfragen, führt zu einer dauerhaften Justierung ohne falsche, veraltete Ansätze. Es stellt sicher, dass wir nicht irgendwann feststellen, dass alles nur ein Missverständnis war.

In einer Diskussion sagte mir kürzlich jemand: "Du veränderst doch nichts, indem du schreibst." Stimmt und stimmt nicht. Allein damit sicher nicht. Es braucht die Tat, sonst stagnieren wir. Und trotzdem: vielleicht doch. Worte formen unser Denken. Schlagen Wellen. Es entsteht ein Zwischen im gegenseitigen Austausch, das weiter geht als der Einzelne. Dieser Raum wird erst durch Sprache gefüllt, durch Rede und Antwort.

Meine Grenzerfahrungen haben mich zum Wort gebracht, zum Schreiben. Ich nutze Sprache, um zu erinnern und zu erforschen, um zu spielen, um aufmerksam zu machen, um zu justieren. Gegen das Verschwinden. Gegen das Dunkle. Mich hat der Tod gelehrt, bedingungslos zu sein. Offenen Auges. Und frei.