Wie kommen wir trotz Corona gemeinsam gut durch die dunklen Jahreszeiten? Unser Schwerpunkt "Kopf hoch" widmet sich den Herausforderungen in diesem Herbst und Winter.

Leonhard Schilbach, Chefarzt für Allgemeine Psychiatrie am LVR-Klinikum Düsseldorf und Psychotherapeut, gab im Frühjahr mit seiner Kollegin, der Psychotherapeutin Marie Bartholomäus, eine Anleitung heraus, wie man trotz Kontakt- und Ausgehbeschränkungen psychisch gesund bleibt. Die beiden griffen dafür auf Methoden und Übungen aus der Verhaltenstherapie zurück. Jetzt, wo der zweite Lockdown unmittelbar bevorsteht, beobachtet Schilbach wieder, dass die Anleitung viel in sozialen Netzwerken geteilt wird. Wir erreichen ihn, als er gerade draußen an der frischen Luft unterwegs ist – und damit einen Tipp aus seiner Anleitung selbst umsetzt.

ZEITmagazin ONLINE: Herr Schilbach, was glauben Sie: Wird uns der zweite Lockdown leichter fallen als der erste, weil wir schon kennen, was jetzt kommt?

Leonhard Schilbach:
Tatsächlich könnte man denken: Die faktischen Bedingungen und die Limitationen sind ähnlich wie im Frühjahr, deshalb wird es uns leichter fallen. Aber ich glaube, diese Sichtweise ist naiv. Ich fürchte, der zweite Lockdown wird für viele Menschen psychisch schwieriger auszuhalten sein.

Leonhard Schilbach, geboren 1979, ist stellvertretender Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Abteilung für Allgemeine Psychiatrie am LVR-Klinikum in Düsseldorf. Außerdem ist er als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München und am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München tätig. © privat

ZEITmagazin ONLINE: Warum?

Schilbach: Nun, Menschen haben ein Gedächtnis und nutzen Erfahrungen, um Erwartungen für die Gegenwart und Zukunft zu generieren. Viele haben noch vor Augen, wie anstrengend die Zeit des ersten Lockdowns war, oder wie traurig und einsam. Ich glaube auch, dass viele damals die Hoffnung hatten, dass sie da jetzt einmal durchmüssen und dann nie wieder. Jetzt, vor dem zweiten Lockdown, ist klar, dass es anschließend erneut zu einer Verschlechterung kommen kann. Dies kann uns lähmen. Psychologisch gesehen wäre es deshalb so wichtig, wenn neben dem Einfordern eines neuen Kraftaktes auch eine Perspektive angeboten würde, wie es danach weitergehen kann, ohne dass immer wieder Lockdowns erforderlich werden. Menschen müssen in schwierigen Phasen einen Sinn und ein Ziel sehen, sonst halten sie eventuell nicht durch.

ZEITmagazin ONLINE: Ein Ziel wird von der Politik doch häufig kommuniziert dieser Tage: ein möglichst besinnliches Weihnachtsfest im Kreise der Familie.

Schilbach: Das ist natürlich eine nette Vorstellung, die Weihnachtsidylle unterm Tannenbaum. Aber sie ist bei näherem Hinsehen nicht aufrechtzuerhalten. Wir müssen uns jetzt konkret überlegen: Wie kann Weihnachten ablaufen, damit das Fest nicht der Startpunkt für die nächste Welle und den nächsten Lockdown ist? Ich glaube, die meisten Menschen ahnen auch, dass an dieser angenommenen Weihnachtsidylle etwas faul ist. Als Psychiater und Psychotherapeut kann ich nur sagen: Transparenz in der Kommunikation ist extrem wichtig. Wenn es einen Haken gibt, wenn man nur die halbe Wahrheit sagt oder um das Wesentliche herumdruckst – das merken Menschen sofort. Die Politikerinnen und Politiker müssen sich jetzt ehrlich machen, sonst können sie den Menschen nicht dauerhaft abverlangen, ihr Verhalten drastisch zu ändern.

ZEITmagazin ONLINE: Im Frühjahr gab es neben allen Sorgen und Ängsten auch eine Art Aufbruchstimmung: Viele genossen ihre leeren Terminkalender, backten Brot oder entdeckten Spaziergänge für sich. Nun scheinen eher Ärger, Frustration und Müdigkeit zu dominieren. Ist das ein Problem, wenn das die Grundstimmung ist, mit der es in den zweiten Lockdown geht?

Schilbach: Als Psychiater betrachte ich diese kollektive Frustration tatsächlich mit einer Sorge, da diese Gefühle oft auch mit Gereiztheit und Antriebslosigkeit einhergehen. Gereiztheit kann den notwendigen sozialen Austausch empfindlich stören und auch die sachliche Diskussion. Wer antriebslos ist, kann in einen Teufelskreis geraten, weil er viele Dinge nicht mehr tut, die ihm eigentlich gerade guttun würden: an die frische Luft gehen, bewegen und Kontakt zu Freundinnen und Familienmitgliedern halten.

Jetzt, da es kalt und nass ist, werden viele Menschen Dinge tun, die der psychischen Gesundheit nicht so zuträglich sind.
Leonhard Schilbach

ZEITmagazin ONLINE: Vielleicht spielt auch die Jahreszeit eine Rolle: Im Frühjahr war der Ausblick auf Spaziergänge und Bewegung an der frischen Luft attraktiver als jetzt im Herbst. 

Schilbach: Definitiv. Ohnehin bemerken jedes Jahr nicht wenige Menschen um diese Jahreszeit, dass es ihnen psychisch schlechter geht. In der Psychiatrie sprechen wir von saisonalen Depressionen. Dass viele Menschen relativ gut gelaunt durch den ersten Lockdown gekommen sind, hatte vermutlich viel mit der Jahreszeit zu tun. Intuitiv haben sie Dinge getan, die sich positiv auf ihre psychische Gesundheit auswirken: Sie sind spazieren gegangen, haben sich bewegt und mit der Natur um sich herum verbunden. Das fällt alles leichter, wenn draußen die Sonne scheint. Jetzt, da es kalt und nass ist, werden viele Menschen Dinge tun, die der psychischen Gesundheit nicht so zuträglich sind – sich zurückziehen, die Wohnung seltener verlassen, sich weniger bewegen.

ZEITmagazin ONLINE: Was muss man tun, wie kann man sich vorbereiten, um psychisch gesund durch den zweiten Lockdown zu kommen?

Schilbach: Man kann sich zunächst einmal vornehmen, in sich reinzuhorchen, sich selbst und das eigene Befinden ernst nehmen und den Istzustand beschreiben. Damit kann man jetzt schon beginnen, bevor der Lockdown überhaupt richtig angefangen hat. Sich ein paar Minuten Zeit nehmen, vielleicht einen Stift und ein Blatt Papier, und sich fragen: Wie geht es mir eigentlich gerade? In der Verhaltenstherapie unterscheiden wir dann verschiedene Ebenen, auf die man achten kann: die Gedanken, die Gefühle, den Körper und das Verhalten.